Kultur

Wu Tsang: There is no nonviolent way to look at somebody

Ausstellung im Berliner Gropius Bau

GDN - Nach Wu Tsangs Aufenthalt als Artist in Residence zeigt der Gropius Bau ab dem 04.09.2019 die Ausstellung “There is no nonviolent way to look at somebody“, die neben der deutschen Premiere “One emerging from a point of view“ einen Überblick über die Filmpraxis der Künstlerin bietet.
Wu Tsang lässt Ebenen der Fiktion und Dokumentation verschmelzen; sie setzt in ihren Arbeiten magischen Realismus als Strategie ein, um rassifizierte, genderspezifische Darstellungen über den sichtbaren Rahmen hinaus neu zu denken und die vielfältigen, sich verändernden Perspektiven zu erfassen, mit denen wir den sozialen Raum erleben. Die gezeigten Filme werden in einen Dialog mit der skulpturalen Praxis der Künstlerin gesetzt, die auf dem Zusammenspiel von Glas, Licht und Text aufbaut und eine neue, speziell für den Gropius Bau konzipierte Glasarbeit umfasst.
“Wu Tsangs radikale Herangehensweise an den Dokumentarfilm ist ein wesentlicher Aspekt ihrer künstlerischen Praxis. Ihre Arbeit lässt filmische Parallelen zwischen dem Aufbau des bewegten Bildes, der Bewegung des darstellenden Körpers und einer der Migration immanenten Bewegung entstehen. Die Art und Weise, wie sie die Kamera benutzt, ermöglicht es Gesten, Choreografien und Tänzen als narrative Kräfte zu wirken. Im Gropius Bau erkunden wir die kollaborativen Beziehungen, die ihrer skulpturalen und filmischen Praxis zugrunde liegen.“ (Stephanie Rosenthal, Direktorin und Kuratorin)
Wu Tsangs neue Arbeit “One emerging from a point of view“ rückt in einer hybriden Filmsprache Migrationserfahrungen in den Fokus. Der auf der griechischen Insel Lesbos gedrehte Film thematisiert die aktuelle Situation, mit der Landschaft und Inselbewohner*innen gleichermaßen konfrontiert sind: das Trauma der Vertreibung. Allein im Jahr 2015 haben über 850.000 Geflüchtete Griechenland erreicht; viele von ihnen kamen an den Ufern der Insel Lesbos an, nachdem sie vor Krieg und untragbaren politischen Umständen über das Mittelmeer geflüchtet waren. Wu Tsang setzt magischen Realismus ein, um diese Realitäten zu dokumentieren, und lässt dabei die Grenzen zwischen Fakt, Fiktion und surrealer Erzählung bewusst verschwimmen.
Angesichts dieser persönlichen und politischen Traumata hat sich Wu Tsang dagegen entschieden, das Geschehen lediglich abzubilden, und versucht Filme zu schaffen, in denen Hybridität Ausdruck finden kann. Ihr Umgang mit bewegten Bildern, der von den Traditionen des Dokumentarfilms beeinflusst ist, stellt einen zentralen Aspekt der Ausstellung dar. “One emerging from a point of view“ besteht aus zwei sich überlappenden Videoprojektionen, in denen sich Aufnahmen überschneiden und ineinander verlaufen - eine Technik, die auch im Film We hold where study (2017) zum Einsatz kommt.
Auch in “We hold where study“ wird ein filmischer Zwischenraum sichtbar; der Film zeigt choreografische Duette, in denen Körper sich aneinanderpressen, verfangen und wieder lösen. Zur Musik von Bendik Giske sind Performance-Künstler*in boychild mit dem Tänzer Josh Johnson und die Choreografin Ligia Lewis mit Jonathan Gonzalez zu sehen. Der Film bildet einen Teil der künstlerischen Reflexion Wu Tsangs über Themen der Bildproduktion und der Trauer.
Als Reaktion auf den Essay “Leave Our Mikes Alone“ von Fred Moten und Stefano Harney präsentiert der Film ein visuelles Vokabular, das sich poetisch Praktiken der Blackness und Queerness annähert - in einer Choreografie von Körpern, die “Differenz und Abweichung ohne Trennung“ möglich werden lässt, um es mit den Worten Denise Ferreira da Silvas zu formulieren.
Wu Tsangs fortwährende Zusammenarbeit mit Fred Moten ist in vielen ihrer Arbeiten sichtbar - insbesondere jedoch in dem Film Girl Talk (2015), der, mit eindringlicher A-cappella-Musik von Josiah Wise unterlegt, Moten bei unbeschwerten Bewegungen in einem sonnendurchfluteten Garten zeigt. In einer leicht verlangsamten Bildfrequenz sieht man Moten in der Sonne ermatten; ein Sinnbild für die berauschende Hitze eines Sommertages. In der doppelten Auseinandersetzung mit den Figuren der Drag Queen und der Mutter bleiben Moten und Tsang, Dichter und Künstlerin, frei in ihrem Wechselspiel der Rollen.
Künstlerische Kollaborationen sind ein wesentlicher Bestandteil der Arbeitsweise Wu Tsangs; sie werden von ihr strategisch zum Erreichen dessen eingesetzt, was sie als In-betweenness, als Dazwischensein, bezeichnet. In ihren Arbeiten überlagert sie bewusst die Gesten, Wörter und Stimmen anderer und lässt auf diese Weise vielfältige, sich verschränkende Perspektiven zur Geltung kommen. So umfasst die Ausstellung “There is no nonviolent way to look at somebody“ Fotoarbeiten von zwei ihrer wichtigsten Kollaborationspartner*innen: boychild und Eirini Vourloumis.
Neben den Schriften Fred Motens und Stefano Harneys kann Wu Tsangs Arbeit auch im Zusammenhang mit dem Denken Édouard Glissants gelesen werden. Vor allem Glissants Verständnis von Opazität beeinflusst sowohl ihre filmische Praxis als auch die speziell für den Gropius Bau konzipierte Farbglasarbeit. Glissant plädierte für die dringende Notwendigkeit, “das Recht auf Opazität lautstark für alle einzufordern“, was er 1990 in Poétique de la Relation - 1997 als Poetics of Relation im Englischen erschienen - weiter ausführte.
Der Autor versteht Opazität als eine ethische Haltung, die die problematischen Züge der imperialistischen und beständig wiederholten Forderung nach “Transparenz“ reflektiert - insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Weite von Erfahrung und Identität Kategorisierungen schier unmöglich macht und sich die Grenzen von Sichtbarkeit und Repräsentation fortwährend verschieben.
“Sustained Glass“ (2019), die speziell für den Gropius Bau konzipierte Farbglasarbeit, ermöglicht eine ästhetische Auseinandersetzung mit Opazität, indem sie einen nicht vollständig lesbaren Text und ein halbtransparentes Material verbindet. Der Akt des Sehens wird nicht als empirische Suche nach Verständnis begriffen, sondern als ein vom Rätselhaften durchdrungener Vorgang: Sehen als ein leidenschaftliches Gefühlsfeld.
Inspiriert vom unmittelbaren Schaffen im Gropius Bau während ihrer Residency im Jahr 2018, ist Wu Tsangs Arbeit auch als umfangreichere Fortsetzung ihrer Untersuchung von Licht und Glas zu verstehen. Die Skulptur entspricht in ihren Proportionen den großen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Fenstern des Ausstellungshauses, kehrt jedoch die Tradition der Glasmalerei, mit der allegorische Geschichten verbildlicht wurden, um.
Für “Sustained Glass“ wurden sich überlappende Wörter mit Säure in das Glas geätzt; es ist die Materialität selbst, die die Arbeit um eine allegorische Ebene erweitert. Das handgefertigte Farbglas ist leuchtend und zerbrechlich, empfindlich und von toxischen Einflüssen gekennzeichnet; es ist ein Material, das weder vollständig undurchsichtig noch vollständig transparent ist - und das so eine poetische Reflexion über das Spannungsfeld zwischen Transparenz und Opazität ermöglicht.
Über Wu Tsang
Der Fokus der künstlerischen Praxis Wu Tsangs liegt auf Film und Performance. Im Jahr 2018 war sie die erste Künstlerin des In House: Artist in Residence-Programms im Gropius Bau, das von Direktorin Stephanie Rosenthal konzipiert wurde. Der Titel In House wurde von Wu Tsang selbst gewählt und verweist nicht nur auf ihre einjährige Forschung im Ausstellungshaus, sondern auch auf die Auseinandersetzung mit dem Gebäude und seinen Gemeinschaften.
Im vergangenen Jahr wurde sie außerdem mit dem MacArthur Genius Grant ausgezeichnet; 2016 war sie Guggenheim Fellow. Sie wurde kürzlich als neue Direktorin des Schauspielhauses Zürich ernannt, wo ein Teil ihres Performance-Kollektivs Moved by the Motion das Ensemble erweitern wird.
Wu Tsangs Arbeiten wurden unter anderem in Institutionen wie dem Migros Museum, Zürich, der Tate Modern, London, der Kunsthalle Münster, dem Stedelijk Museum, Amsterdam, dem Whitney Museum of American Art, New York und dem HAU Berlin ausgestellt, gezeigt und aufgeführt. Wu Tsang erhielt 2004 einen BFA von der School of Art Institute in Chicago und 2010 einen MFA von der University of California in Los Angeles.
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