Kultur

“DER NSU-PROZESS. DIE PROTOKOLLE“ am Staatstheater Kassel

“Im Namen des Volkes“


(Quelle: Marina Sturm)
(Quelle: Marina Sturm)
GDN - Die Stückentwicklung “Der NSU-Prozess. Die Protokolle“ (Regie: Janis Knorr), die am 12. September Premiere im tif - Theater im Fridericianum feierte, ist ein Blick in Abgründe - ein sowohl bewegender als auch verstörender Theaterabend.
Am 6. Mai 2013 wurde einer der größten Strafprozesse in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands, in dessen Verlauf mehr als 600 Zeug*innen und Sachverständige gehört wurden, eröffnet. Fünf Jahre später verurteilte das Gericht die fünf Angeklagten, denen vorgeworfen wurde, die rechtsextremistische Terrororganisation NSU, die zehn Menschen ermordet, drei Sprengstoffanschläge verübt, eine Brandstiftung und 15 Raubüberfälle begangen haben soll, gegründet oder unterstützt zu haben, zu unterschiedlichen Haftstrafen.
Bei dem Gedanken an die im Bundestag sitzenden Stenografen, die jedes Wort einer Rede sowie jeden noch so unbedeutenden Zwischenruf protokollieren, ist es kaum vorstellbar, dass von dem Prozess keine offizielle Mitschrift existiert. Aber tatsächlich gibt es in einem Strafprozess, bei dem es um Mord und Totschlag geht, kein Protokoll. Insofern gleicht eine Gerichtsverhandlung einem Theaterstück, bei dem das gesprochene Wort, im Gegensatz zum Film, Fernsehen oder Hörspiel, nicht aufgezeichnet wird und bereits in dem Augenblick, in dem es gesprochen wird, objektiv verschwunden ist. Haften bleibt die subjektive Erinnerung des jeweiligen Besuchers.
Doch vier Journalist*innen der Süddeutschen Zeitung - Annette Ramelsberger, Wiebke Ramm, Tanjev Schultz und Rainer Stadler - haben dankenswerterweise mit außerordentlicher Akribie und bemerkenswerter Beharrlichkeit die Verhandlung lückenlos verfolgt und aus ihren Mitschriften ein umfassendes Protokoll erstellt, das die Grundlage des Theaterstücks in Kassel bildet.
Quelle: Marina Sturm
Und so ziehen zu Beginn des Abends Richter Manfred Götzl und die Anwält*innen den Vorhang auf, um die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und geben den Blick frei auf den Raum, der Erkenntnis verspricht und mit dem verheißungsvollen Satz “Im Namen des Volkes“ überschrieben ist. Während der kommenden ca. 1,5 Stunden erlebt das Publikum im ersten Teil des Abends Protagonisten, die ihre jeweiligen Rollen spielen, diese wenig glaubhaft ausüben, überambitioniert wirken, überzeugen oder blass bleiben. Aber vom ersten Moment an ist unverkennbar, dass irgendwann der Vorhang fallen wird, ohne dass ein befriedigendes Resultat herausgearbeitet sein wird.
Zuvor durchlebt das Publikum eine anstrengende und zermürbende Gerichtsverhandlung, die in manchen Momenten - und gleich zu Beginn - an absurdes Theater erinnert. So kommt es trotz nüchterner Sprache und eines schmerzlichen Themas durchaus zu Lachern im Publikum. Doch was auf der Kasseler Bühne gesprochen wird, ist die Realität! Jedes Wort und jeder Satz, so grotesk er auch erscheint, ist genauso während des Prozesses gesagt worden.
Regisseur Janis Knorr hat in Zusammenarbeit mit Dramaturgin Petra Schiller aus den Protokollen die Fassung für die Bühne entwickelt und sich dabei auf den Mord an Halit Yozgat konzentriert, der am 6. April 2006 in seinem Internetcafé in Kassel erschossen wurde. Diese Fokussierung ist fraglos legitim und bewirkt, dass bereits bei der Nennung der Adresse des Tatortes den Zuschauern bewusst wird, dass hier ein Verbrechen verhandelt wird, das sich in unmittelbarer Nähe und somit in ihrer Lebenswelt ereignet hat.

Die Täter*innen tauchen in dem Stück nicht auf, wodurch der gängigen Dramaturgie von Gerichtsprozessen, wie sie aus Film und Fernsehen bekannt sind - ein simples Gut gegen Böse mit zumeist als gerecht empfundenem Ausgang - entgegengewirkt wird. An diesem Abend geht es darum, tiefer zu bohren, den Blick zu weiten, mögliche Zusammenhänge offenzulegen und sich nicht wie die Bundesanwaltschaft mit der Beschränkung auf das aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bestehende Trio zufriedenzugeben. Somit wird die entlastende Projektion von Wut und Schuld in die Person von Beate Zschäpe verunmöglicht. Die blaue Neonschrift auf der Bühne erinnert daran: “Im Namen des Volkes“. Die Verantwortung kann nicht beiseitegeschoben werden.
Ariella Karatolou hat ein Bühnenbild entwickelt, das die “Mauern des Schweigens“ und das aussichtslose Rennen gegen Wände versinnbildlicht und die Darsteller in uniforme Overalls gehüllt - ein dichtes Kleidungsstück, das ursprünglich den Träger vor Schmutz schützen soll und in denen die Protagonisten ihre jeweilige Rolle in dem Verfahren spielen, ohne zu viel von sich preiszugeben und auf keinen Fall allzu viel an sich heranzulassen.
Quelle: Marina Sturm
Annette Ramelsberger, eine der Journalistinnen, denen wir die Protokolle zu verdanken haben, sprach bei dem Geschehen im Gerichtssaal von einem “Hochamt der Zermürbung“ und dies kann im ersten Teil der Kasseler Inszenierung schmerzlich nachempfunden werden, wenn beispielsweise dem V-Mann Andreas Temme in ausgedehnten Frage-Antwort-Spielchen nur tröpfchenweise wenig schlüssige Aussagen zu entlocken sind. “Er lügt. Wir wissen alle, dass er lügt!“ (Ismail Yozgat)
Auch mag sich der Zuschauer wiederholt fragen, wer denn hier eigentlich der Herr des Verfahrens ist, wenn beispielsweise der Direktor des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen sich während seiner Aussage wie ein römischer Imperator auf dem Sitzkissen fläzt. Es lässt sich vage erahnen, wie sehr diese Vorgänge die Angehörigen, die an der Verhandlung teilgenommen haben, verletzt und empört haben werden. “¦ und auch der Blick auf die Rückwand schmerzt zusehends: “Im Namen des Volkes“.
Nach der Pause haben die Schauspieler ihre Rollen verlassen, was auch an den veränderten Kostümen deutlich wird. Die Zuschauer erleben ein gänzlich anderes Stück, sind eingeladen, sich aktiv mit den Geschehnissen auseinanderzusetzen und den Tatort, der im Verlaufe des Stückes mittels neonfarbener Klebestreifen rekonstruiert wurde, in Augenschein zu nehmen. Ist es vorstellbar, dass in diesem vergleichsweise überschaubaren Raum zwei Schüsse überhört und eine ausgestreckte Leiche übersehen werden konnte?
Dies ist, nach 5 Jahren NSU-Prozess, nur eine von vielen unbeantworteten Fragen. Die absurde Diskrepanz zwischen Quellenschutz und Aufklärungswillen einer Mordserie ist evident, denn offenkundig wurden die Ermittlungen vom Verfassungsschutz aktiv behindert, Informationen zurückgehalten und sogar Akten vernichtet. Wie glaubhaft ist es, von einem isolierten Trio als Täter auszugehen?
Im August 2018 erhielt die Rechtsanwältin Seda BaÅŸay-Yıldız, die beim NSU-Prozess Adile ÅžimÅŸek, deren Ehemann vom NSU ermordet wurde, vertrat, ein Fax, mit der Drohung, ihre kleine Tochter zu “schlachten“. Unterzeichnet war das Schreiben mit “NSU 2.0“.
Der Anfang Juni erschossene Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke stand bereits vor Jahren auf einer Todesliste des NSU. Seine Ermordung erfolgte während sich Regisseur Janis Knorr auf seine Inszenierung vorbereitete. Das Stück am Kasseler Staatstheater ist Walter Lübcke gewidmet und seiner wird an diesem Abend ausgesprochen bewegend gedacht.
Quelle: Marina Sturm
Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier hat bezüglich dessen Tötung “rückhaltlose Aufklärung“ angekündigt, was bedeuten müsste, dem Generalbundesanwalt erforderliche Akten des Landesamts für Verfassungsschutz zum NSU zur Verfügung zu stellen. Doch diese befinden sich für 120 Jahre (!) unter Verschluss. Eine Petition, die mittlerweile fast 30.000 Menschen unterzeichnet haben und die vom Intendanten des Staatstheaters Kassel Thomas Bockelmann, der in dem Stück als Schauspieler zu erleben ist, ausdrücklich unterstützt wird, fordert die sofortige Freigabe dieser gesperrten Akten. (s. Link unterhalb des Artikels)
Quelle: Marina Sturm
Dem Staatstheater Kassel und Regisseur Janis Knorr ist eine hochaktuelle, gleichsam bewegende, zermürbende und verstörende, in jedem Fall couragierte Stückentwicklung gelungen. Es ist anerkennenswert, dass das Staatstheater das Thema NSU mit dem Urteilsspruch gegen Beate Zschäpe nicht als abgeschlossen betrachtet, sondern beabsichtigt, es in den Köpfen wachzuhalten. Ein Besuch des Stückes ist unbedingt zu empfehlen, denn was dort zu erleben ist, geschieht “im Namen des Volkes“.

weitere Informationen: https://www.change.org/p/hessischer-landtag-geben-sie-die-nsu-akten-frei-nsuakten-luebcke

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